#kaffeeundkunsten

Die Situation insbesondere während des Lockdowns hat noch einmal überdeutlich die Frage gestellt, was denn nun eigentlich ein Gottesdienst sei, was eine Andacht, was spirituelle Praxis.
Die PlayingArts-Gruppe „Berlin frei spielen“, bestehend aus Dorothée Böcker, Andrea Kuhla, Annette Plaz und Birgit Mattausch, hat mit „Kaffee und Kunsten“, einem Kunst- und Beteiligungsformat auf Facebook, eine eigene Antwort gefunden. Und vielleicht auch eine Weise, wie Spiritualität und Verkündigung vielstimmiger und partizipativer werden könnten.

Anfang März war es plötzlich ziemlich sicher, dass er kommen würde: der Corona-Lockdown. Und mit ihm das Kontaktverbot, Abstandsregeln, Masken, Homeoffice und viele Fragen: Wie wird es werden? Wie lange wird es dauern? Was bedeutet es für mich? Was erwartet mich? Werde ich damit zurechtkommen? Viele Menschen fingen zu dieser Zeit an, Vorräte einzukaufen und andere Vorkehrungen zu treffen.

Kaffee und Kunsten
Auch wir haben uns gefragt, was uns in dieser Krise trägt und wie wir da durchkommen. In unserer kleinen Chatgruppe hatten wir allesamt einen gemeinsamen Impuls: Etwas tun zu wollen, ja fast tun zu müssen – all den auferlegten Einschränkungen und unserer eigenen Ratlosigkeit zum Trotz. Etwas mit Kunst und Spiel und Schreiben sollte es sein, etwas für uns und andere, etwas, das in den eigenen vier Wänden funktioniert und gleichzeitig über die Wände hinweg verbindet. Denn in dieser Sache waren wir uns einig und ziemlich sicher: Im Ernstfall helfen Kaffee, Kuchen, Kunst, Kompliz*innenschaft und Spiel. So wurde innerhalb weniger Stunden im Hin- und Her des Chats unser kleines Caféprojekt „Kaffee und Kunsten“ auf Facebook geboren.

Zwölf Wochen lang war unser hybrides Caféhäuschen dann immer werktags geöffnet. Vormittags gab es eine kurze Erinnerung und sachdienliche Hinweise, welches Material am Nachmittag gebraucht werden würde. Um 15 Uhr kam dann die Schreib- oder sonstige Kunst-Kreativ-Aufgabe mit der Einladung, sich damit 20 Minuten oder auch länger zu beschäftigen. Danach konnte Erlebtes und Entstandenes unter dem jeweiligen Beitrag in den Kommentaren oder auch anderswo geteilt werden. Die Aufgaben kamen von uns vieren und auch immer wieder von Gast-Impulsgeber*innen aus unserem Schreibeulen- und Playingartskompliz*innenkreis.

60 Tage lang waren wir eine muntere und illustre digitale Reisegruppe, jeden Tag neu bunt zusammengewürfelt. Wir saßen in den eigenen vier Wänden in Hildesheim, in Berlin, auf Nordseeinseln, in NRW, in Bayern, in Dörfern und Großstädten, mal alleine und mal mit den Mitbewohner*innen und waren durch Kaffee, Kunst und Spiel zur gleichen Zeit trotzdem nah miteinander verbunden. Gefährten und Gefährtinnen auf der Suche. Punkt 15 Uhr wochentags sind wir kurz aus dem Lockdown-Alltag heraus in eine freundliche Zeit-Raum-Spalte gerutscht und haben uns einen eignen, autonomen Raum erobert und freigespielt, was in uns steckt: 

Wir haben unseren Küchentisch bereist und Küchenklänge erforscht, sind mit Alice in ferne Welten hinter Türen und durch Schlüssellöcher gereist, haben ein Ich-Museum besucht, Seligkeitsdinge als Souvenirs aus Handtaschenland mitgebracht, wir haben Urlaubsgrüße verschickt und Fleckenland entdeckt, sind über das Fensterbrett und durchs Leere gegangen. Wir waren slow und sind über Texturen gegangen, auf Treppen geradewegs in den Himmel. Wir haben die Welt von oben gesehen und sind durchs Wohnzimmer getanzt. Unsere Fremdenführer*innen waren Kaffeetiere und Ohrwürmer, Alex Osborn und ein Ohrensessel und fingergroße Menschen aus Papier. Wir haben Rosa und Rot gesehen, KamillenwörterTee gekocht und HoffnungsTürme gebaut, sind Kopf gestanden und haben die Welten verändert. Wir haben Risse gerahmt und uns selbst die Füße gewaschen, haben zerschnitten und geschwärzt, Dinge interviewt und Menschen. Wir haben Liebesbriefe geschrieben, mit Büchern geredet und allerlei sortiert. Wir haben Hoffnung in Bäume gehängt und Brot bekunstet.

Unser Tun mag manchen Menschen sicherlich komisch und im Ernst der Lage vielleicht viel zu verspielt vorgekommen sein. Doch gerade im Spielerischen haben wir in dieser Krisenzeit viel Segen erfahren. 

Spiel und Freiheit
In der deutschen Sprache verbinden wir das Wort „Spiel“ vor allem mit Kinderspiel, Glücksspiel, Brettspiel oder Computerspiel – jedoch braucht auch eine Radachse Spiel, damit sie sich bewegen kann, ebenso eine Schublade. In diesem Verständnis von Spiel geht es um einen Zwischenraum, welcher – im Gegensatz zum Stillstand durch Verkantung – freie Bewegung zulässt. Dieses Bewegungsprinzip des Spiels ist auch für unsere menschliche Lebendigkeit und Freiheit von zentraler Bedeutung. Das Spiel lässt sich somit als existentielle Lebensbewegung verstehen.[1] Homo Ludens – „der spielende Mensch“, so formuliert der niederländische Historiker Johan Huizinga (1872-1945) dieses Bild vom Menschen und beschreibt das Spiel als grundlegende Substanz und (trans-)formative Kraft von Leben, Kultur und Gesellschaft. Homo Ludens, der spielende Mensch, der sich seine Welt – alles, was er ist, seine Selbstgewissheit, seinen Glauben, seine Umwelt – im selbstvergessenen, zweckfreien Spiel über Möglichkeiten und Zufälle aneignet und so seinen ganz eigenen Sinn findet. Der evangelische Theologe Ernst Lange schreibt dazu: „Menschen (…) brauchen das Spiel zum Leben. Spielend und nur spielend kommen wir den unerschöpflichen Möglichkeiten unseres Daseins auf die Spur. Spielend entdecken wir Alternativen zum gewohnten Verhalten, überschreiten wir die Grenzen unserer Alltagsrollen und probieren andere aus, testen wir Problemlösungen, die vom Üblichen abweichen. Das Spiel ist das Übungsfeld unserer Freiheit.[2]

Sicherlich war dieser Gedanke einer unserer Spuren bei der Idee von „Kaffee und Kunsten“. Einen realen Möglichkeitsraum im JETZT zu schaffen, in dem durch einen kleinen Impuls angestoßen der Raum wieder freier, vergnügter und größer wird, und wir selbst aufs Neue einen eigenen und gemeinsamen Handlungsspielraum spüren und uns verbunden wissen.

Auch Carolin Emcke plädierte in ihrem klugen samstäglichen Corona-Journal in der Süddeutschen Zeitung für die Gegenwärtigkeit. Am Montag, den 30. März 2020, schrieb sie: „Es ist die Gegenwart, in der wir alle, jeden Tag, einzeln, aber auch miteinander nach Spielräumen suchen müssen, nach temporary autonomous zones, wie der Schriftsteller und Philosoph Hakim Bey das genannt hatte. „temporär autonome Zonen“, soziale und kreative Praktiken, die für einen kurzen Augenblick etwas unterbrechen, die subjektive oder kollektive Autonomie anbieten, für eine begrenzte Zeit.“

Solch „temporär autonome Zonen“ braucht es. Ein einfaches, verlässliches Format mit einem Kunstimpuls als „kleinster gemeinsamer Nenner“, der einen großen Raum für Resonanz öffnet. Denn egal ob Krise oder nicht: Spielen tut der Seele gut.

Spiel ist leicht – Spielen müssen geht nicht. Spielen dürfen schon. Es beginnt mit der Erlaubnis sich selbst gegenüber. Und es braucht den Zuspruch zur Freiheit von anderen.

Spiel ist zweckfrei – Spiel hat kein festgelegtes Ziel und braucht nicht zwingend ein Ergebnis. Gerade in solch zweckentlasteten Räumen kann sich deshalb zutiefst Sinnstiftendes ereignen und konkretisieren. 

Spiel ist heilig – Im freien Spiel kommen Schöpfer und Heiliger Geist zusammen. Der Mensch als Ebenbild Gottes, der im ständig kreativen Prozess die Entstehung der Welt mitgestaltet. Spiel und Spiritualität haben vieles gemeinsam. Sie sind beide unverfügbar, schwer in Worte zu fassen und werden als offene, ganz eigene Prozesse erfahrbar.

Spiel ist Risiko – Spielende setzen sich immer auch selbst aufs Spiel. Sie folgen vagen Spuren, ohne zu wissen, worauf diese hinauslaufen. Sie lassen sich verwickeln und gehen an und über so manch eigene Grenze. Spielende haben ein Recht auf eigenes Scheitern und Gelingen.

Spiel ist Verantwortung – Spiel braucht einen geschützten und wohlwollenden Raum. Die Freiheit des eigenen Spiels endet an den räumlichen Grenzen des Spielortes und an den persönlichen Grenzen anderer Menschen.

Als Kaffee und Kunsten – Team planen wir daher auch zukünftig immer mal für einen Tag oder eine Woche „aufzupoppen“. Diese(r) wir dann passend zu dem, was gerade ist, bekaffee-t und bekunstet werden. (Anmerkung: Das geschieht beispielsweise derzeit im zweiten Lockdown im Winter 2020/2021 an Montagen und Freitagen.)

Dorothée Böcker und Andrea Kuhla (*1982), beide Berlin

#kaffeeundkunsten
https://www.facebook.com/KaffeeundKunsten/

Der allererste #kaffeeundkunsten Impuls:

Tischreise (Birgit Mattausch // Dienstag, 17.03.2020)

Du brauchst: Schreibzeug (es geht Papier und Stift, aber auch Notizenapp, Laptop etc.), 1 Tisch in der Nähe, das Wissen, wo Norden ist (dafür gibt es kostenlose Kompass-Apps), Kaffee oder Tee bitte selber mitbringen!

Wir beginnen mit einem wunderbaren Inspirateur: der französische Schriftsteller Xavier de Maistre (*1763). 1790 stand er 42 Tage unter Hausarrest – und nutzte die Zeit für eine Rundreise durch sein Zimmer. Daraus wurde sein Roman „Reise um mein Zimmer“.

Aufgabe also: Bereise einen Tisch in deiner Wohnung (oder wo du auch bist) von Norden nach Süden, als sei er ein dir unbekannter Kontinent. Beschreibe genau, was du auf deiner Reise erlebst und beobachtest. Wem du begegnest. Tu das 20 Minuten lang. Du musst nicht bis ganz an den Südrand gelangen. Nur so weit, wie du eben kommst.

Am äußersten Nordrand, der Kante über dem Abgrund, wächst ein Gras aus Silberfäden. Von dort aus schaust du noch einmal zurück. Überblickst die Küchenschlucht. Dann drehst du dich um. Sonne im Gesicht. Querst Weizenfelder. Die sich abwechseln mit Gerste. Kleine Erhebungen. Den Weizen pflanzen sie hier oben. Die Gerste ein Stück tiefer. Immer im Wechsel. Von sehr weit oben bilden die verschiedenen Getreidefarben den Kopf der Nofretete. Ob sie hier verehrt wird wie eine Göttin? Und ihr Mann Echnaton wäre dann wohl ein Sternbild am Himmel, so dass sie einander sehen könnten. Zumindest sehen. Aber du wirst wieder klein und gehst weiter. Vorbei an einem gelben Faden aus Zitronennetz. An etwas, das du für ein Salz- oder Zuckerkorn hältst. Es schmeckt aber weder süß noch salzig, sondern einfach nach nichts. Und dann kommt der Fluß. Zitronennetzboote am einen Ufer. Brotkrumenbarken am anderen. Sonne im Gesicht.

Dieser Artikel ist erstmals erschienen in „Für den Gottesdienst“ (FdG) 921/ November 2020, der Zeitschrift des Michaeliskloster Hildesheim. Die ganze Zeitschrift ist hier zu beziehen:

https://www.material-michaeliskloster.de/zeitschriften/fuer-den-gottesdienst-fdg/1661/fuer-den-gottesdienst-heft-91

[1]
       Dais, Petra (2003): Einführung in die Theologie des Spiels.
Quelle: https://www.theomag.de/24/pd1.htm

[2]
     E. Lange (1973): Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgie und Pfarramt. (Referat auf dem Düsseldorfer Kirchentag 1973)