Wie geht’s? Umrisse und Fragmente

playingarts:atelier in der Ruine der ehemaligen Cyriakskirche in Camburg/Thüringen

Auf Spurensuche zu sein, gehört zu playing arts. Spuren an einem so geheimnisvollen und geschichtsträchtigen Ort wie der Ruine der ehemaligen Cyriakskirche zu folgen, hatte einen besonderen Charme. Während sich einige immer wieder auf die Mauern begaben, um von dort zu singen, zu springen, Papierbahnen auszurollen, haben andere sich im zugeschütteten Tunnel mit Bildern vergangener Zeiten befasst, wieder andere haben die Steine der Mauern in ihrer Materialität untersucht: mit Papier und Kohlestiften, mit den bloßen Händen, mit Pappmasche. Der große Stein in der Mitte, der den originalen Platz des Altars der alten Kirche einnahm, wurde zum zentralen Ort für performative Szenen der Begegnung, Begehung und Berührung. 

Was passiert, wenn 20 sehr unterschiedliche Menschen einem Ort mit ihren Spielimpulsen aus Kunst, Material, Raum, innerer Bewegung oder thematischer Zentrierung begegnen? (Fotos am Ende des Textes.)

Das Thema: Wie geht’s? Umrisse und Fragmente hat angestoßen, über die Fragmente und Um:Risse des Spielraums ins Gespräch und ins Spiel zu gelangen. Wie “es geht” hat sich in der ununterbrochen stattfindenden Performance von Sebastian gezeigt: mal langsam, mal schneller, mit Steinen in der Hand oder in Begleitung hat er das Kirchenschiff-Fragment durchschritten: jeden Tag. Und dabei hat er eine gut sichtbare Spur im Gras hinterlassen. Ein Umriss und ein Fragment – ergangen. Mauerrisse und Steinoberflächen wurden von Gabi in eine neue Materialität gebracht: Frottagen der Oberflächen und mit Kohle gearbeitete Zeichnungen von Stein – Papier, das eine Oberfläche wie Stein zeigt. Anna-May hat die Weichheit des gewässerten Papiers genutzt und Abdrücke in die Mauern gearbeitet: der Oberfläche neue Oberflächen gegeben. Farbig und fließend. Dass der Wind ständig durch die Mauern fegte, ließ Petra auf die Säulen steigen und Fahnen darauf setzen, die aus Textspuren des liegenden blinden Schreibens von Wahrnehmungen und Gedanken bestanden (ein Impuls des Künstlers Simon Pfeffel). Im Zusammenspiel der Bewegungen des Bewegungsparks entstand am Ende die statuenhafte Performance dreier Menschen in langsamer Bewegung auf den Säulen der Cyriakskirche. Monika beging derweil den Ort in unglaublicher Langsamkeit, inspiriert von dem Künstler Daniel Beerstecher, der die Strecke eines Marathons entlang der Donau über mehrere Wochen lang in slowmotion ging. Das Experiment der vollkommenen Konzentration im Körper kontrastierte sich derweil mit den vielen Geh-Versuchen und Silly walks von Linda, die auf dem Gelände immer wieder erschien, um am Ende Videoschnitte zu zeigen, die den Slapstick der Bewegungen spielerisch und humorvoll zusammenfügten. Schreiend wurden Personenbeschreibungen verlesen: was für ein Identitätsgeschrei darum, wer wir sind und zu sein scheinen! Mal stand Sarah dafür auf der Mauer, mal im Wald, mal zwischen den Mauern. Kaum konnte man sich dem entziehen, diesen Fragmenten, die einen laut erreichten wie Lautsprecherdurchsagen, nur eindringlicher, weil die Stimme echt war. Mirko befasste sich derweil mit den historischen Spuren des Spielorts und schrieb eine riesige Papierrolle mit der neueren politischen Geschichte  des Ruinen-Geländes voll, um diese dann an den Wänden hinunterfallen zu lassen. Angelika fragte nach Haargeschichten, die dann an der Mauer in Form von Satzfragmenten erschienen und ihr Spiel mit dem Haar – tatsächlichen Haarspaltereien und Haarresten begleiteten – welch eine (Haar)Pracht! Die Ruine begleitete alle Playing Artist durch diese Tage mit ihren steinernen Wänden und durchlässigen Umrissen. “Donna, donna, donna, donna”! tönte es von der höchsten Stelle der Mauer: ein in englisch bekanntes Lied in jiddischer Sprache gesungen von Karl-Eugen. Seine Spur eine Resonanz auf den Ort, die Fragilität des Daseins und die unüberwindbare Frage nach den Spuren der Vergangenheit. Im Zusammenspiel bekam alles (s)einen Platz. Thomas befragte die Mauer als eine Instanz der Klage: was ist Deine Klage? Was ist Dein Schmerz? Was ist Dein Lob? Pfeile drangen in die Mauer wie mahnende Erinnerungen an das, was wir uns eigentlich voneinander erzählen sollten in dieser Welt. Und der andere Thomas befragte gleichzeitig die undurchdringliche Mauer von Gesichtern, die doch immer mehr zeigen von dem, was ist und sein könnte als eigentlich gezeigt werden soll. In langen Filmsequenzen ließ er Gesichter erscheinen, blieb im Spiel mit anderen in der Gruppe ein Chronist des Menschlichen in undurchdringlichen Gesichtszügen, die immer mehr zeigten, als ihre Träger*innen vermuteten. Welch ein Schönheit! 

Immer wieder hing Sebastian (der zweite!) an anderen Orten in seinem Wohndomizil der Hängematte. Die Suche nach dem Ort war sein Spiel – oder der des Findenlassens in dem Ort? Es war nie entschieden. Susanne legte sich vor den Altar zwischen sich-zeigen und sich-finden – ein ganzer Nachmittag ging dahin, während sie einfach – oder auch sehr schwer – die Beziehung zwischen Eingang und Ausgang auslotete. Eine Performerin, die sich selbst ganz aufs Spiel setzte – ohne viel TamTam: einfach so inmitten des Spiels der Anderen. Johanna warf dagegen Worte auf und um, lancierte diese als Teil einer empirischen Erhebung in der Gruppe ins Zentrum des Spielgeschehens: Lieblingsworte? Wer bist Du? Im performativen Zusammenspiel der künstlerischen Resonanzen spielte das keine Rolle mehr – die Dinge ergaben sich, traten hervor und haben unterschiedliche weitere Spielweisen hervorgebracht. So z.B. die aufdringlichen roten Bänder, die Pamela durch die Szenerie zog: überall verbundensein miteinander. Im Zentrum der Altar, auf dem Michael seine betonharten Wortfragmente spielerisch zusammen stellte, verwarf, neu bildete und im Kontext des Kreuzes wieder und wieder umschichtete. Sein Spiel eine Grenzwanderung zwischen Spiel und Spiritualität. Das Schichten von Seifenschaum wurde zu Annegrets Spiel: in versunkener Hingabe haben Seifenschaum und Händewaschen Bilder entstehen lassen, die im Himmel reflektiert wurden. Ihre Installation von vorbeiziehenden Wolkenbildern in einer Nische der Ruine verdichtete das sich wiederholende Einreiben der Hände mit Seife und den dadurch entstehenden ästhetischen Formen der Seifenschaum-Berge, die schier nicht endeten. So wie der Himmel und der Wind in ihrem Video in die Weite wiesen. 

So in etwa hat sich das Playing Arts Atelier auf dem Gelände der ehemaligen Cyriakskirche im Spiel verdichtet – es wären noch mehr Beispiele anzufügen, jede*r hat in der gemeinsamen Atmosphäre der Offenheit im Spiel mit und durch und über Kunst einen Platz gefunden, der anschaulich in einem performativen Park am Samstagabend sichtbar wurde: in der Konzentration auf ein zeigbares und spielbares Format, das die einzelnen Beteiligten miteinander in Resonanz versetzte.

Dieses playingarts:atelier hat alle miteinander in eine Dynamik versetzt, die bei der Entwicklung eigener Spurensuche und künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten Rückkopplungen und Begegnungen ermöglichte, die nach lang anhaltender Pandemie ein Befreiung darstellte: aus dem Eigenen hinaus in die Gruppe und zu sich zurück. Herzlichen Dank an Michael, der als Gastgeber diesen Spiel-Ort ermöglichte!

Wiebke Lohfeld