„Ja, Sie müssen Ihr Handy abgeben“ – ernsthaft? Auf dem Weg in die Ruheinsel der Abramovic-Ausstellung in Tübingen gibt es keine Kompromisse: wenn du mitmachen willst, dann nach den Regeln der Künstlerin. Und im Nachhinein: vielen DANK! An einem langen Tisch sitzen vereinzelte Ausstellungsbesucher*innen mit wirklich dicken Kopfhörern auf den Ohren und zählen eine selbst gewählte Menge an Reis und Linsen – mehr nicht. Keine Zeiterfassung, kein Vergleichen, kein Stress – außer dem, den man sich selbst setzt. Aber: nach 50 Reiskörnern hatte ich den Dreh raus und es war einfach nur das eine Tun. Reis nach links schieben und Linsen nach rechts, Striche, schieben usw.. Das Ergebnis: eine Strichliste, die meinen Fleiß dokumentiert. Oder: eine Strichliste meiner Zeit für Zeit. Oder: einfach eine Strichliste. Schaut selbst!
Die Ausstellung hat Werke von Marina Abramovic, die in diesem Jahr 75 ist, in den Zusammenhang der Frage nach dem Selbst gestellt. Ihre Kunst: eine ständige Annäherung an das eigene Sein, eine schmerzhafte, mutige und für Betrachter*innen oft irritierende Annäherung, die eben auch Anfragen aufzwingt an das Betrachten, Zumuten, Grenzüberschreitungen und die Hoffnung, dass alles gut gehen möge. Ich kann diese Ausstellung nur empfehlen: Hingehen, Reis zählen und die Bilder einfangen, die einem zugemutet werden. Darin sind wir auch selbst gefordert, nicht nur zu sehen, sondern die eigene Empfindung beim Betrachten der Bilder, Videos und Erklärungen auszuhalten.
Wiebke Lohfeld
Marina Abramovic, noch bis 13. Februar 2022 in der Kunsthalle Tübingen.